WYDAWCA: STOWARZYSZENIE WILLA DECJUSZA & INSTYTUT KULTURY WILLA DECJUSZA
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Der lange Schlummer

Recht torkelnd und müde gelangte ich durch die leeren Straßen zu einem großen Park mit einer herrlich weiten Wiese. Erst langsam begriff ich, dass ich im guten alten Rosental stand. Jenes Kleinod der Leipziger, wo einst die Kutschen hindurchrollten und die Bürger flanierten. Da streckte ich mich voller seliger Erinnerungen auf Mutter Erde aus, und schlummerte weg. Gegen Mittag wurde ich nicht etwa vom feuchten Boden geweckt, die kräftige Sonne hatte alles getrocknet. Sondern ein gar infernalisches Brüllen ließ mich hochfahren! 

Es kam, so glaube mir, von einem wilden Tier. Im Rosental findest du heute nämlich den Leipziger Zoologischen Garten. Wenn du einmal dort auf der Wiese ausgestreckt liegst, begrüßen dich am nächsten Morgen Giraffen und Zebras. Ich kannte die Geschöpfe bisher nur aus den alten Büchern, und war froh, sie leibhaftig zu erblicken. Mein Glück wuchs noch, als ich sah, dass die Bestien durch einen hohen Metallzaun von mir getrennt waren. Das Katerfrühstück bestand aus einigen trockenen Wecken, die ich einer alten Frau abschwatzte, als der Gohliser Kirchturm die neunte Stunde schlug. Sie wollte die Tauben im Rosental füttern. Ich hielte das für keine gute Idee, sagte ich prompt, so erziehe man die Tiere nur zur Faulheit. Schon erntete ich die Brosamen, die gar nicht übel schmecken, wenn du sie eine Weile im Mund weich werden lässt. 

Endlich kam ich, die Händler recht grimmig vor Hunger anblickend, in Leipzigs Zentrum an. Ich besah mir zuerst die altehrwürdige Nikolaischule, wo mich im Jahre 1779 ein Herr Martini geschleift hatte, der dafür in der Hölle schmoren soll! Weißt du noch, in der Art der alten Schulmeister wurden wir derart angeredet: Wir sind heute wieder nicht aufmerksam, Seume. Jetzt findest du in dem Gebäude, das mir summa summarum viele Qualen und wenig Freuden brachte, eine Wirtsstube, was ich für keine grundverkehrte Entwicklung halte. Die Nikolaischule gibt es immer noch, sie ist aber nach Stötteritz umgezogen, mithin vor die Tore Leipzigs. 

Vielleicht erinnerst du dich an eine kuriose Meldung in den Leipziger Journalen unserer Zeit. Man suchte nach einem 18jährigen Studenten, der von einem Tag auf den anderen spurlos entwichen war. Die Affäre, dachte ich, sei längst überstanden. Bei einem Buchhändler an der Nikolaikirche wurde ich eines Besseren belehrt. Dort fand ich eine gedruckte Biografie meiner Person, die zum Glück nicht Magister Böttiger aus Weimar geschrieben hatte. Und darin stand auch die kuriose Meldung, die jeden Bürger aufrief, eine Person mit folgender Beschreibung bei den Behörden zu melden: Schwarzbraunes Haar im steifen Zopfe, buschige Augenbrauen und eine mit Schlangenhaut überzogene Degenscheide. Ich sah mich prompt wieder mit dem steifen Zopfe vor der Nikolaischule stehen, und ins Ungewisse stapfen. Auch die alte Not stieg in mir hoch, und als mir der Buchhändler die Schwarte andrehen sollte, erwiderte ich skoptisch: Von Seume habe ich allemal genug! 

Doch der Groll ist schon verflogen. Leipzig meint es gut mit mir, indem es aus meiner alten Schule eine Wirtsstube macht, und mich auch nicht mehr steckbrieflich sucht. Die Vergangenheit ist eine Anekdote, und dabei sollten wir es bewenden lassen. Ich bin unterdessen in einer Änderungsschneiderei abgestiegen. Die Straßenbahn rauscht vor dem Fenster vorbei, und bei grünem Ampellicht folgen ihr die Autos auf vier Spuren. Hier befindet sich das Connewitzer Kreuz, ein wichtiger Verkehrspunkt. Und hier fand ich auch meine mildtätige Gönnerin, nachdem ich bloß an drei Türen klopfen musste. Ich hatte Glück, will ich dir sagen. 

Die originale Leipziger Wirtin heißt Else Guhltzsch, welcher Name wie Musik in den Ohren klingt, findest du nicht? Sie verlieh mir nebst einem kleinen Zimmer, das mir als Königspalast reicht, ein wenig Geld. Alles gegen meinen heiligen Schwur, die Zeche pünktlich bei meiner Abreise zu begleichen. Das will ich gern tun. Und auch deinen Spott will ich ertragen, wenn ich dir nun mitteile, dass Else Guhltzsch eine lustige Witwe ist, die beim Schneiden, Stopfen und Nähen gern Fernsehen schaut. Ich bleibe in Leipzig, bis alle Schlachten geschlagen sind. 

Dass Leipzig ein berühmter Messeplatz war, ist dir besser als jedem anderen bekannt, der du mich nicht selten über die Stadthistorie ins Verhör nahmst. Wolltest du doch, dass ich ein kundiger Botschafter Leipzigs werde. Dann lass dir sagen: Noch heute finden Messen an der Pleiße statt, vertraute mir meine Wirtin an, auch wenn sie nicht mehr die Bedeutung wie einst haben. Du findest jetzt weit draußen vor den Stadttoren, ungefähr dort, wo ich nach meiner Landung am Flughafen herumstiefelte, die neue Messe. Es gibt auch eine alte Messe, die auf halbem Weg nach Stötteritz liegt, und damit immer noch zentraler als die neue Messe gelegen ist. Heute besichtigte ich die alte Messe. Die Hallen für das Messetreiben sind 100 Jahre alte Kuppelgebäude, eine jede so groß wie ein römisches Stadion. Da sie in der DDR errichtet wurden, musste auf einer der Messehallen ein symbolischer Tribut gezollt werden. Auf einer spitzen Pyramide thront oben auf dem Dach einer Halle ein roter Stern, der das Zeichen der Sowjetunion war. Ich denke, die Sachsen machen sich ein Vergnügen daraus, den Stern eines versunkenen Staates an der Spitze hängen zu lassen. Wie ich sie kenne, lieben sie die Symbole erst, wenn sie verflossen sind. Das ist keine Frechheit gegen die Obrigkeit, sondern einfach gesunder Menschenverstand. 

Bei uns galten die Arbeiter und Bauern noch nicht viel. Adel und Klerus konnten über sie nach Belieben verfügen, ihre Entlohnung war oft spärlich, oder sie wurde in angekündigten Gebeten erbracht. Eine solche Emanzipation der einfachen Werkzeuge Gottes freut mich nicht wenig. Vor allem in Leipzig, wo man die Künste dabei nicht vergisst. Hinter der alten Messe haben die Kinder der Stadt einen Monumentalbau zum Andenken an die Völkerschlacht im Jahre 1813 errichtet. Es soll eines der größten Denkmäler Europas sein. Glaube mir, als ich zum ersten Mal vor dem Völkerschlachtdenkmal stand, kam mir der Turmbau zu Babel als eine schlaffe Legende vor. Eine wahre Trutzburg erblickst du dort, mit einer Plattform auf schwindelerregender Höhe, die man gut für militärische Zwecke nutzen könnte. Du wirst den Verlauf dieser Schlacht, die unser Leben durcheinandergewirbelt hätte, hätten wir sie erlebt, auf den folgenden Seiten erzählt bekommen. Diesmal möchte ich dir nur das verraten. Oben auf dem Völkerschlachtdenkmal wachen zwölf Ritter aus Stein mit Schild und Schwert, ein jeder von ihnen ist zwölf Meter hoch. Du musst nicht mehr nach Rhodos fahren, um einen Koloss zu erblicken. Und noch eines: In ihrem Schatten kannst du es an einem heißen Junitag fein aushalten! 

Auf dem Spaziergang vergaß ich niemals, so müde ich auch war, dir ein paar Zeilen aufzuschreiben. Die Tage im Haus meiner Wirtin gehen anders vorüber. Sie locken mit allerlei Müßiggang, und wenn die Müdigkeit kommt, schiebt man alle guten Vorsätze auf den nächsten Tag. Auch möchte die Wirtin Guhltzsch nicht gern allein zu Bett gehen. Du kannst ruhig sagen, meine Verpflichtungen beginnen erst, wenn der Tag vorüber ist. 

Der lange Schlummer ist ein Auszug aus einem noch unveröffentlichten Roman von Jan Decker.

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Decker Jan [autor]

Jan Decker (1977, Niemcy) – prozaik, dramaturg, eseista, literaturoznawca. Sztuki teatralne z premierami w Staatstheater Nürnberg i Theater Vorpommern. Liczne słuchowiska, ostatnio Jockey Deutschland (SWR 2014) i Meindigitales Ich (MDR 2014). Stypendium dla autorów słuchowisk przyznawane przez Deutscher Literaturfonds (2010), stypendium Künstlerhaus Eckernförde w Szlezwiku-Holsztynie (2011), literackie stypendium Spreewaldu (2012), nagorda literacka Prenzlauer Berg (2012), nominowany do nagrody literackiej Seume (2013). Członek niemieckiego Centrum PEN. Oprócz tego praca dydaktyczna, między innymi od 2013 roku na Uniwersytecie w Osnabrück.