„Die nehm ich mit, die nehm ich mit, das sage ich euch, die nehm ich mit.“
Es ist nicht da, ist doch da, schweigt.
Versagt das persö nliche Befü rwort, die klare Perspektive ich du sie ihr wir sie.
Es schweigt. Sich. Drumherum ist es laut. Es kriecht und schiebt, sich,
und sie schiebt es fort mit zwei Schnäpsen an einer Bar. Sie und eine andere Frau. Oder sie, beide, schieben, das kö nnen sie kaum wissen. Oder du und ich. An einer Bar. Du hast tiefe schö ne Augenringe, in denen lese ich zu viel von Strenge und Wä rme zugleich, fantasiere einen trotzigen Grö ßenwahn vielleicht nur hinein. Weil ich auch nü chtern wenig Stand habe und von da aus keinen Weg, seit durchgezählten Jahren, zwei Hände braucht es dafü r, seit irgendwann mittig in den 2010ern keinen Weg zu Berü hrung. Es sind acht. Ich zähle, sie zählt, alle zä hlen sie die Jahre. Zwei zählen was an einer Bar. Drumherum ist es laut. Und sie sprechen ja auch, schieben Schnapsgläser ü ber die Bar, fordern noch zwei, mehrmals. Damit die Flü ssigkeit mich unterspü lt. Damit ü ber acht Jahre oder länger, sinnlos lang ineinander Versacktes sich doch wieder bewegt. Klares ö ffnet den Mund, ein Finger zuckt in den Zwischenraum von dir zu mir. Odžffnet deinen Mund, ihren Mund, fü r einen offenen Abschied: Du machst mir Angst.
Klares ö ffnet sinnlos den Mund und am nächsten Morgen die Tü r zu einem Zimmer in einer anderen Zeit, da liegt einer, umspü lt von Dingen, in einer Messi-Wohnung in Dresden-Gorbitz, Plattenbau, auf dem Sofa ertrunken. Auch das ist schon ein paar Jahre her oder sehr oder sinnlos lang. Ich verbiete mir, je wieder etwas mit Alkohol zu ö ffnen, mit ihm zu erweichen, was dabei ist, Stein zu werden. Warte, suche. Bis bis bis bleibt es verschlossen, fest, es. Der Zwischenraum ist weiter nichts, er schweigt. Acht Jahre schon.
Die Frau in der Dederonschü rze ruft:
„Und das kommt so weit.
Und dann nehm ich meine Kinder mit,
die nehm ich mit, das sage ich euch. Die nehm ich mit.“
Du besuchst mich, streichelst meine Pβlanzen, ich zeige dir die Stelle im Hof, wo die Katze vergraben liegt, die mit mir lebte. Du fragst nach den Jahren, ihre Zahl muss aus mir geβlossen sein an der Bar. Und fast so lang habe ich hier gewohnt, hat sie hier gewohnt, irgendeine, der das nicht gehö rt, und darum wurde ihr nun auch gekü ndigt. Der Besucherin beschreibt sie, es komme ihr vor, als mü sse sie jedes Mö belstü ck einzeln und allein die fü nf Stockwerke hinuntertragen, jedes Ding einpacken und anheben und tragen, all die Stufen hinunter, ohne zu wissen, wohin. Und so fü hle sich auch ihr Kö rper. Verausgabt und taub. Das ist keiner, der berü hren kann und berü hrt werden will, er ist unter den Dingen nur ein weiteres, das die anderen zu halten versucht. Alles, was fü r sie allein zu schwer ist, Waschmaschine, Kü hlschrank, Herd, Kleiderschrank, steht und starrt sie an, verlangt nach einer Lö sung und nach mehreren Händen und einem Ort, wo sie ü berhaupt noch hinkö nnen. So kann sie in der Wohnung, die ihr Zuhause war, kaum mehr sein.
Du fragst, ob ich damit sagen wolle, dass es ein schlechter Zeitpunkt sei, das mit der Berü hrung zu versuchen.
Dokumentarβilm:
Ostdeutschland in den 90ern, Abwicklungen der Treuhand,
Proteste dagegen, Bilder vom Hungerstreik der Kalikumpel aus
Bischofferode, Beschreibung einer Art kollektiver Depression. Zur
Illustration Schnitt zu einem Mann, der sich bitter von der Kamera
abwendet. Eine Frau versucht, ihn zu halten, zu trö sten, er
entzieht sich ihr fast rabiat, geht, aus dem Bild raus, sein Gesicht
ist nicht sichtbar. Und dann Schnitt zu der Frau in der
Dederonschü rze. Sie spricht und sticht mit dem Finger in Richtung
der Kamera, sticht sich an die eigene Brust, fü hrt den Zeigeβinger
über ihre Kehle.
Sie sticht mit dem Zeigeβinger und sagt in die Kamera:
„Mit den 500 Mark Arbeitslosenunterstützung
kann ich mir gleich den Strick nehmen, kann mich auβhängen.
Und das kommt so weit. Und dann nehm ich meine Kinder mit,
die nehm ich mit, das sage ich euch.
Die nehm ich mit.“
Mit Not, am Kloß in ihrem Hals vorbei
presst sie den letzten Satz:
„Die lass ich nicht alleine hier“
und wendet sich ab.
Es geht streng mit der Zeit, stellt sie wie eine Hü rde auf und das Zarte ins Aus.
Es schweigt. Sich. Presst sich in den Zwischenraum, mä chtig, immer kleiner und immer härter. Drumherum ist es schrill. Es macht dicht, sich,
und sie schü ttelt den Kopf und sucht nach verbliebenen Lü cken im Gesicht der anderen, sucht nach Worten, in der Bar, der gekü ndigten Wohnung, bei einem Spaziergang hinauf auf das Parkdeck mit Blick ü ber Leipzig-Grü nau, Plattenbau. Fragt, ob unter den Hemmungen noch etwas zuckt. Ich du sie sucht nach einem Ausdruck, der mehr ist als das Bewahren einer Fassung.
Sie tä towiert das Wort auf ihre Hand, in ihrer Handschrift. Der Schnörkel vom letzten h läuft aus in einem langen Strich, den Zeigeβinger meiner Schreibhand empor, bis zum Nagel.
Neben der Frau in der Dederonschü rze steht eine Person, die noch
sehr jung sein kö nnte, 14 vielleicht, das Kind der Frau sein könnte.
Oder aber sie ist doch irgendwo um die 20 und ein:e junge
Kolleg:in. Auf „die nehme ich mit“ reagiert die Person sichtbar nur
mit ihren Augen, die von links nach rechts und zurück springen,
ein paar Mal, sonst regt sie sich nicht. Wir wissen nicht, ob eines
der Kinder im Bild ist.
Die Schreibhand kann ich nicht selbst tätowieren. Sie mit den schö nen Augenringen tut es. Nimmt Alkohol nur zum Desinβizieren. Es gibt kein Ende des bis bis bis, nur einen Moment, da wir unsere Hände halten wie Versprechen ohne Erpressung. Sprich.
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Zeitschriftenausschnitt aus: Interview mit Sabine Nuss in: ak – analyse & kritik 706, 20. August 2024.
Filmszene aus: Generation Crash. Wir Ost-Millenials. MDR, 2023.
Collagen von der Autorin.