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Pappbuchstaben im Schaufenster des Lebensmittelladens




Jan Kuhlbrodt, Vor der Schrift, Plöttner Verlag, Leipzig, 2010.

Jan Kuhlbrodt erkundet in seinem zweiten Roman „Vor der Schrift“ seine Kindheit in Karl-Marx-Stadt.

Nach „Schneckenparadies“ ist „Vor der Schrift“ bereits der zweite belletristische Ausflug von Jan Kuhlbrodt, der bereits Lyrik, ein Drama, und ein Hörstück verfasst hat und außerdem Herausgeber der renommierten Literaturzeitschrift EDIT war.

„Vor der Schrift“: das heißt bei Kuhlbrodt im allerersten Verständnis vor dem Lesen- und Schreiben-Lernen. Das Kind, um das es hier geht, nimmt die DDR als „Pappbuchstaben im Schaufenster des Lebensmittelladens“ wahr. Und eher als Bedeutungen sind es die Namen, die Kuhlbrodt aus dem Gedächtnis abruft: Firmennamen wie den Kondomhersteller Fromms, das Selters-Wasser, Maggi Speisewürze. Und, wie ein Leitmotiv, der Name Karl-Marx-Stadt für das ehemalige und nun, heute, wieder so genannte Chemnitz.

In 17 meist kurzen Kapiteln durchstreift Jan Kuhlbrodt seine Kindheit. Fixpunkte sind Personen, Verwandte, Sandkastenfreunde, und Orte wie das Plattenbaugebiet „Sonnenberg“ oder die Lotharstraße in Karl-Marx-Stadt. Sprünge in die Achtziger oder Neunziger Jahre stellen eine Reflexionsebene her, wenn Kuhlbrodt beispielsweise über seine eigenen Kinder schreibt. Auf langer Sicht bleibt „Vor der Schrift“ aber in eben jener Kindheitsphase, in der das Buch auch beginnt.

Stärken Kuhlbrodts sind die zahlreichen Anekdoten, wie die Geschichte der Urgroßeltern, die 1881 in Chicago geheiratet haben und das Feindbild Amerika ins Wanken bringen. Oder auch die Wiederbegegnung mit der Sandkastenfreundin Betti auf einem Blueskonzert, die für Kuhlbrodt enttäuschend endet: Betti ist trotz Westzigaretten nicht für den „Blueser“ zu begeistern – sie ist inzwischen „Punk“.

So liest sich „Vor der Schrift“ als private Erinnerung an ein Aufwachsen im real existierenden Sozialismus. Gelungen ist die Heraufbeschwörung einer Kindheit, insgesamt ist das Buch eine Hommage an das Kind:

Das Wunderbare ist dem Kind keine Arbeit, je mehr wir aber im Heranwachsen unseren Blick mit Erkenntnissystemen verstellen, unsere Abläufe algorithmisieren, je mehr wir unser Wissen aus mittelbarer Erfahrung beziehen, um so mehr Arbeit ist es, die Wunder dahinter wieder frei zu bekommen.

Interessant wäre ein tieferer Einblick in die Jugend- und Studienzeit, die hier nur episodenhaft angerissen wird, ebenso wie eine detailliertere Schilderung der Zeit 1989/90. Aber das kann ja noch kommen: der dritte Roman folgt bestimmt.


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