WYDAWCA: STOWARZYSZENIE WILLA DECJUSZA & INSTYTUT KULTURY WILLA DECJUSZA
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Blut

Nachrichtensprecherin (Julia Cortis)
Kommissar, 44
Dr. Mittenzweig, 62

Christliche Bürger

Dienstmädchen 1 (Katja Huber?), 19
Dienstmädchen 2, 22
Fleischer-Hoffmann, 52
Hausherrin, 39
Masloff, 28
– alle zusammen: der Dienstmädchenchor

(gerne in unterschiedlicher Zusammensetzung)

Jüdische Bürger

Alex Prinz, 23 (kann doppelt besetzt werden)
Camminer, 36 (kann doppelt besetzt werden)
Adolph Lewy, 24 (kann doppelt besetzt werden)
Mutter Lewy, 52 (kann doppelt besetzt werden)
Moritz Lewy, 55

1

Einführung/Kommissar

(bitte möglichst väterliche,

gutmütige stimme)

            

Kommissar

Erinnern Sie sich noch an das Jahr 1900? An das erste Jahr des Jahrhunderts? An das Jahr, in dem der Fortschritt des Menschen sichtbarer wurde denn je zuvor? Pariser Weltausstellung, Dieselmotor, Tonfilm, Rolltreppe? Quantenphysik, Freuds Traumdeutung? Die Menschen eilten, lachten und diskutierten. Die Moderne schlich sich an uns heran wie ein zahmes Tier, plötzlich stand sie vor uns und sah uns mit großen, glänzenden Augen an. Die Menschen in Paris und Berlin und London lachten dem Tier ins Gesicht, staunten, diskutierten und eilten weiter. Fortschritt, Aufbruch, Humanität! Doch manche von uns schreckten ein wenig zurück, denn noch nicht überall war das Zeitalter der Weltausstellungen und der Quantenphysik angebrochen. Leider nicht überall! Von manchem Ort verjagte man das moderne Tier, als es an den Stadtmauern stand und den Eintritt begehrte. Die gute alte Zeit wollte noch nicht weichen. Ich spreche von jener guten alten Zeit, als unsere Herren noch schwer und ehrlich gearbeitet haben und sonntags die Frucht ihrer Arbeit genossen. Als wir uns frühmorgens voller Tatendrang an unser ehrliches Gewerbe machten.

Chor Der Dienstmädchen

Wir waren Fleischer, Bäcker, Maurer, manche von uns Beamte, andere Tagelöhner oder Knechte. Wir zwei zum Beispiel, wir waren Dienstmädchen.

Kommissar

Jeder hatte seinen Platz in der Gesellschaft. Wissen Sie, jene Zeit, in der unsere Mädchen sich zu benehmen wussten, höflich jeden gegrüßt haben, manche sogar mit einem kleinen Knicks. Heute sehen wir uns einen Ort an, der ja so typisch war für die hunderten, tausenden, hunderttausenden kleinen Orte, in denen das Vieh in den Ställen dampfte, die Kinder auf Schulbänke gedrückt wurden, in denen morgens die Dienstmädchen aus den Häusern liefen, die roten Bäckchen glänzen und die Mäulchen plappern und tuscheln ließen, und abends todmüde in ihr Kämmerchen stolperten. Heute erzählen wir von Westpreußen, Sie wissen schon, Kulmerland, Pomesanien, Pommerellen und Teile Großpolens. Meine Damen und Herren, alle Welt schaut nach Konitz.

Bitte die schmunzelige einführung erst mit leiser marschmusik, pferdegetrapper, altmodischen hupen usw., unterstreichen, dann bitte ab der zweiten hälfte leise schreie, radau diskret unterheben:


2

Abendessen bei der vierhhändlerfamilie Lewy, tischgeklapper, aus dem radio kommt popmusik.

Im Hintergrund hört man leise Tiere muhen oder blöken.  

 

Moritz Lewy

Habt ihr’s gehört? Da ist einer aus Konitz verschwunden. Ernst Winter heißt er.

Mutter Lewy

Ernst Winter? Ein junger Mensch?

Moritz Lewy

Vom Gymnasium einer, den kennst du. So einer mit goldenen Knöpfen an der Kappe. Ein bisschen ein Stutzer halt, aber nicht unsympathisch.

Adolph Lewy

Kenn ich nicht.

Mutter Lewy

Der! Du, Adolph, du, kennst doch den Ernst Winter. Wir kennen den Ernst Winter. Er hat bei uns schon oft Fleisch gekauft. So ein großer, hübscher. Er wohnt in der Pension von Weber.

Adolph Lewy

Hm. Der taucht schon wieder auf.

Mutter Lewy

Dass dem nichts passiert ist. Es ist ja wahr, in Konitz gibt es so dunkle Gassen, dass jemand totgeschlagen werden könne, ohne dass er es selbst merke.

(lacht)

Kannst du mir das Salz geben, Adolph.

Adolph Lewy

Der schläft wahrscheinlich seinen Rausch aus, der Rumtreiber. Zu unserer Zeit…

Moritz Lewy

Ach, Papa, du bist so etwas von altmodisch. Na gut, ich gehe ins Bett, ich hatte einen langen Tag.

Adolph Lewy

Vergiss nicht, morgen früh musst du ein Kalb aus Dirschau holen. Das Geld lege ich dir raus. Gute Nacht, Moritz.

Kommissar

So ist das in Konitz, auch bei den Lewys, man lebt ein bisschen aneinander vorbei. Es ist nicht so, dass man sich hassen würde, man grüßt sich meistens ja auch auf der Straße. So unterschiedlich ist man auch nicht: wenn es den Juden friert, wird es den Katholiken wahrscheinlich auch in die Stube ziehen. Die Polen mögen die Deutschen nicht, die Altlutheraner mögen die Katholiken nicht, die Kaschuben versteht eh keiner, und wenn einer von den Christen verschwindet, ist das den Juden erst einmal egal.

Retro-Tagesschau-Gong:


3

Radio-Nachrichten. 

                 

Nachrichtensprecherin

(möglichst Julia Cortis)

Verehrte Zuhörer, es ist Dienstag, der 13. März, 20 Uhr. Konitz. Der seit vorgestern als vermisste gemeldete Obertertianer Ernst Winter ist tot. Im Mönchsee zu

Konitz wurde heute der Rumpf des Schülers aus dem Wasser geborgen und von dessen Vater zweifelsfrei identifiziert. Ernst Winter verschwand am 11. März, er war von Zeugen noch am Nachmittag im Stadtzentrum von Konitz gesehen worden. Der Polizei liegen zahlreiche Hinweise aus der Bevölkerung vor.

Moritz Lewy Hast du gehört?

Adolph Lewy (abwesend) Soso.

Moritz Lewy Vater!

(Man hört schon leise die Dienstmädchen, ein Fenster wird geöffnet, jetzt hört man sie deutlich)

Chor Der Dienstmädchen

Um Gottes Willen! Der Ernst Winter ist tot! Unschuldiges Blut wurde vergossen!

Musik, die in kleinstadt geräusche übergeht:

Pferdetrapper, autogeräusche, der chor entfernt sich.


4

Retro-Tagesschau-Gong.

                 

Nachrichtensprecherin

Verehrte Zuhörer, es ist der 14. März, 20 Uhr. Konitz.

Einen Tag nach dem Auffinden des Torsos des seit dem

11. März als vermisst gemeldeten Gymnasiasten Ernst

Winter haben heute spielende Kinder einen weiteren Körperteil des Toten entdeckt. Hierbei handelt es sich um den rechten Arm des Gymnasiasten. Unweit der Stadtmauer auf einem Feld wurde die in Papier verpackte Extremität des Schülers zufällig gefunden. Die Polizei geht derzeit den zahlreichen Hinweisen aus der Bevölkerung nach.

Kommissar

Konitz ist ein Städtchen wie jedes andere, aber dann verschwindet ein Mann, fast noch ein Halbwüchsiger. Ernst Winter, Gymnasiast, gutaussehend, glänzend beleumundet, ein toller Turner…

Chor Der Dienstmädchen

…wunderschöne, sehnige Unterarme…

Kommissar

…kommt an einem klaren, frischen Märztag nicht zurück in seine Pension. Was wird geschehen in einem Ort, dessen alte, gute preußische und königstreue Art stets vorbildlich war? Soll ich es Ihnen sagen? Die Gemüter erhitzen sich bis zum Wahnsinn. Der Ort dreht durch, Konitz wird langsam verrückt.

Städtische Geräusche werden lauter:


5

Auf dem Marktplatz, man hört sie üblichen städtischen

Geräusche, sie gehen langsam über Vivaldi, String Concerto

RV 152: II. Andante molto

            

Dienstmädchen 1

Ich hab’s gehört…

Dienstmädchen 2

Was? Was? Erzähl?

Dienstmädchen 1

(flüstert unverständlich, nach und nach wird der Inhalt verständlich, dann überdeutlich)

Ich habe es von der Franzi gehört. Die alte Lewy hat etwas gebracht aus der Kammer, und der alte Lewy kam in die Stube und die Frau fragte, nun wie ist es gewesen,

(wird deutlicher)

ist er sehr stark gewesen, sehr kräftig, hat er sich sehr gewehrt, hat es sich auch gelohnt, hast du mir auch etwas gebracht? Und der alte Lewy dann: Er war sehr stark, sechs Mann haben ihn halten müssen; mit der Zeit wurde er doch schwach, es hat sich gelohnt, dies habe ich dir mitgebracht. Er schenkte ihr eine Flasche mit Blut, und sie haben sich umarmt und geküsst, brrrr! Und das Schlimmste ist…es geht weiter, ich hab gesehen, wie die noch ganz viele leere Flaschen in der Kammer…

Dienstmädchen 2

Die brauchen das für ihr jüdisches Osterfest! Das musst du dem Kommissar sagen!

Dienstmädchen 1

Na, der fährt einen immer so an.

Dienstmädchen 2

Aber der muss das wissen!

Dienstmädchen 1

Ich kann ja nichtmal gescheit lesen, der lacht mich doch aus.

Dienstmädchen 2

Aber sprechen kannst du! Und hören!

Dienstmädchen 1

Ja, sprechen und hören kann ich schon.

Dienstmädchen 2

Es wird Zeit, dass uns auch die Großkopferten zuhören! Wir kennen in Konitz jeden Stein, ohne uns kriegen die gar nichts heraus.

Dienstmädchen 1

Der Kommissar ist ein Herr aus Berlin, der hat bestimmt nicht viel übrig für unsereiner.

Dienstmädchen 2

Der muss dir zuhören! Wenn du es doch gehört hast!

Dienstmädchen 1

Ja, gehört schon, aber ich hab ja keine Beweise.

Dienstmädchen 2

Ja, aber!

Dienstmädchen 1

Der glaubt mir ja eh nicht.

Dienstmädchen 2

Ja, aber!

Dienstmädchen 1

Ich bin ja bloß ein Dienstmädchen! Der glaubt des nicht!

Dienstmädchen 2

Ja, weil der mit den Juden unter einer Decke steckt! Weißt du was? Ich hol mir den Mantel und wir gehen zum Kommissar und dann erzählst du ihm alles.

Dienstmädchen 1

Ich weiß nicht, ich trau mich nicht recht.

Dienstmädchen 2

Und die Belohnung teilen wir uns!

 

6

In der Amtsstube, man hört schreibmaschinen und eine

filterkaffeemaschine, gerne auch lichtröhrenflackern               

 

Fleischer-Hoffmann

Herr Kommissar, bitte hören Sie mir zu, es ist nicht das erste Mal.

Kommissar

Hoffmann, was wollen Sie mir sagen?

Fleischer-Hoffmann

(dramatisch)

Werner in Wesel. Esther Solymotty in Tisza-Eszlar.

Schänchen Hegmann aus Xanten.

Und erst letztes Jahr die Agneza in Polna! Alle drei von ruchloser Judenhand geschlachtet!

Kommissar

Ich verweise Sie gleich der Amtsstube, wenn Sie nicht mit dem Unsinn aufhören!

Fleischer-Hoffmann

Das ist kein Unsinn! Die Juden waren das! Mehrere von ihnen! Einer alleine hätte einen wie den Ernst Winter gar nicht überwältigen können.

Kommissar

Was sollen die Juden Ihrer Ansicht nach denn mit dem Blut machen?

Fleischer-Hoffmann

Ich weiß es nicht! Keiner weiß es! Die brauchen das für ihr Geschäft, sagt man. Die füllen es in kleine Fläschchen ab und es bringt ihnen Glück, sagt man.

Kommissar

Wir leben im Jahr 1900 und der Fleischermeister Hoffmann kommt daher und denkt, er kann mir so einen Stuss erzählen!

Fleischer-Hoffmann

Die Juden sind ein zutiefst abergläubiges Volk, die brauchen ab und zu das Blut, das müssen Sie doch wissen. Das Geschäft ging auch nicht mehr recht beim Lewy, sagt man sich.

Kommissar

Herr Hoffmann! Ich frage Sie ganz offen: Handelt es sich bei Ihrer Aussage um den Versuch, einen Konkurrenten auszuschalten? Verkauft der Lewy vielleicht ein besseres Fleisch? Wollen Sie den Lewy raus haben aus der Stadt?

Fleischer-Hoffmann

Ein besseres Fleisch, ha, dass ich nicht lache. Schauen

Sie, ich habe zwei Gesellen und ein Dienstmädchen. Der Lewy hat gar keinen Gesellen mehr, schon seit Jahren nicht mehr, nur seinen Sohn, der Moritz Lewy, der mit dem Pincenez auf der Nase steht. Verhören Sie lieber den! Nein, die meisten Konitzer kaufen bei mir, beim christlichen Fleischer. Wozu soll man beim Juden kaufen, wenn es auch beim Christen geht?

Kommissar

Herr Hoffmann, Sie sind doch ein intelligenter Mensch! Wie können Sie an diesen Ritualmordunsinn glauben?

Fleischer-Hoffmann

Ich habe einen Beweis oder zumindest ein sehr starkes Indiz…Herr Kommissar, wie viel Belohnung wurde ausgesetzt zur Ergreifung des oder der Täter?

Kommissar 2.000 Mark.

Fleischer-Hoffmann

Und trotzdem dringt kein Verräter nach außen, die haben sich gegen uns verschworen! Hören Sie…Die Juden dürstet es nach Christenblut. Ich bin selbst Fleischer,

ich kenne mich aus. Ich bin sofort nach dem Mönchsee geeilt, nachdem ich gehört habe, dass man dem Ernst Winter seinen Leib aus dem Wasser gezogen habe. dramatische klassische musik:

Ich durchbohrte den Sack mit dem Stock, das Wasser war rötlich gefärbt, man sah nicht die gewöhnliche Wasserfarbe, sondern etwas rötliches, blutiges. Dann nahm ich das Fleisch aus dem Sack. Ich habe alles gesehen. Da war kein Tropfen Blut mehr im Leib, nee. Kein Tropfen! Das Haupt sauber abgetrennt, ich weiß, wie sie’s machen. Ich meine, dass der Zerteiler des Winterschen Körpers schon manchen Christknaben getötet und zerlegt haben mag, so geschickt war er an den mir sichtbaren Teilen…

Kommissar

Herr Fleischer-Hoffmann, ich muss ja wohl sehr bitten, Sie und Ihre Schauermärchen aus dem Mittelalter!

Fleischer-Hoffmann

Sie machen einen sauberen Schnitt in den Hals, dann sammeln sie es. Der Schnitt, durch welchen der Kopf vom Hals getrennt wird, ist der richtige Schächterschnitt, wie ihn der jüdische Schächter zu machen pflegt.

Kommissar

Und der christliche Schlachter ist nicht in der Lage zu einem solchen Schnitt, mit welchem Kopf und Hals sauber durchtrennt werden, oder was?

Fleischer-Hoffmann

Als Fleischer habe ich stets, ununterbrochen die Gelegenheit, das Schächten der Tiere zu sehen! Früher pflegten die Schächter die Kälber in der Weise zu schächten, dass sie das lebende Tier mit den Hinterfüßen aufhingen, so dass der Kopf nach unten ging, welcher festgehalten wurde. Der Schächter schnitt dann…

Kommissar

Wollen Sie nun aufhören? Sie blockieren meine Ermittlungen mit Ihrem Unsinn!

Fleischer-Hoffmann

…er schnitt dann unterhalb der Kehle mit einem scharfen Messer den Tieren den Hals durch. Ganz ebenso denke ich mir die Ermordung des Winter, nach den an dem Rumpfe…, er muss plötzlich überfallen worden sein, durch Würgen am Schreien behindert, mit dem Kopf nach unten aufgehängt und entkleidet, und dann auf die Weise getötet…

Kommissar

(unbarsch)

Unterlassen Sie das! Hoffmann, ich verbitte mir weiteren Unsinn! Haben Sie einen einzigen richtigen Beweis?

Fleischer-Hoffmann

(zögerlich)

Aber…

 

7

wieder mit gong beginnen

            

Nachrichtensprecherin

Verehrte Zuhörer, es ist der 19. März, 20 Uhr.

Konitz. Bereits zum dritten Mal wurde ein grausiger

Fund gemacht: In der Nähe des Mönchsees wurde der

Kopf des seit über einer Woche vermissten Gymnasiasten Ernst Winter gefunden. Ein Hund entdeckte das abgetrennte Haupt unweit der Stelle, an der bereits Ernst Winters Rumpf gefunden wurde. Die Polizei tappt nach wie vor im Dunkeln. Der Schüler Ernst Winter galt als umgänglich und allseits beliebt. Für Hinweise, die zu einer Ergreifung des Täters führen, ist eine Belohnung ausgesetzt worden. Für einen kurzen Kommentar schalten wir den aus Berlin zugereisten leitenden Ermittler, Kommissar Braun, zu. Herr Braun, gibt es schon eine heiße Spur im Mordfall Ernst Winter?

Kommissar

Das muss ich verneinen. Derzeit geht die Polizei Hinweisen aus allen Richtungen nach. Derzeit wissen wir nur, dass Ernst Winter aller Wahrscheinlichkeit nach erwürgt worden ist.

Nachrichtensprecherin

Aber die Leiche soll doch völlig blutleer gewesen sein und Ernst Winters Kehle soll von Ohr zu Ohr durchgeschnitten worden sein.

Kommissar

Gnädige Frau, das sind Spekulationen, die ich während der laufenden Ermittlungen weder bestätigen noch widerlegen mag. Wie gesagt, wir ermitteln in alle Richtungen.

Nachrichtensprecherin

Aber wer könnte Interesse daran gehabt haben, den jungen, gutaussehenden, allseits beliebten Gymnasiasten zu ermorden?

Kommissar

Sehen Sie, Ernst Winter verkehrte in vielerlei Kreisen in dieser Stadt. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Auf Wiedersehen.

 

8

Auf der Straße, man hört verkehr, Pferde, den Pöbel skandieren. Eine Tür schlägt zu, der Kommissar verlässt seine Amtsstube.  

            

Chor der Dienstmädchen und christliche bewohner Hep! Hep! Die Juden waren’s! Die Juden waren’s!

Kommissar

Also Leute, jetzt reißen Sie sich zusammen. Jetzt gehen Sie alle nach Hause. Die Juden waren’s, dass ich nicht lache.

Was blöderes fällt ihnen nicht ein? He! Sie da! Heimgehen!

Chor der Dienstmädchen und christliche bewohner Hep! Hep! Zeter über die Juden! Judio, Mordio, Hilfio, Wafeno, o Wafen, Heil, Heila, o Heil!

Dienstmädchen 1

Sind Sie der Kommissar Braun aus Berlin?

Kommissar

Der bin ich.

Dienstmädchen 2

Ich muss eine Mitteilung machen, Herr Kommissar!

Kommissar

Ich höre, aber ich sage Ihnen gleich…

Dienstmädchen 2

(aufgebracht)

…wie ein Stück Vieh hams ihn geschlachtet, nach jüdischem Ritus hams ihn geschlachtet. GE-SCHÄCHTET. Im Lewy seim Keller, die Judenbagage.

Dienstmädchen 1

(flehend)

Herr Kommissar, tun Sie doch was! Man hat doch den Lumpen-Feigl gesehen, wie er in aller Ruhe ein rundes, eingewickeltes Paket zum Mönchsee getragen hat, und so komisch ist er gegangen…das war der Kopf vom Ernst Winter! Und dann die ganzen anderen Dinge, die man beobachtet hat! Untersuchen Sie den jetzt? Nehmen Sie den Lumpen-Feigl fest, Herr Kommissar?

Kommissar

Ja, freilich, der wird halt besoffen gewesen sein, der

Lumpen-Feigl, und seine Flasche wird er getragen haben.

Also, Mädels, geht’s heim, hier gibt’s nichts zu sehen. Der Nächste, bitte!

Man hört schritte und einen schleifenden stuhl auf dem holzboden

Kommissar

Camminer, Sie sind jüdischer Religion, 36 Jahre alt. Was denken Sie, wieso habe ich Sie zu mir gerufen?

Camminer

Ich kann mich nur einer Sache ersinnen, für die Sie mich hierher gerufen haben; und sie ist völlig harmlos; sie geschah in der Woche nach dem Mord, der Bauer Hellwig kam zu mir und wollte sich das Geld für das Getreide geben lassen. Er sagte zu mir: Sie sehen so erfroren aus, und ich sagte zu ihm: Sie sehen so frisch und gesund aus; Ihnen spritzt das Blut nur so aus dem Gesicht.

Kommissar

Ihnen spritzt das Blut so aus dem Gesicht? Das sagten Sie wohl, weil es im Winter war im Frost. … Dann sollen Sie gesagt haben: Sie sind gut dazu.

Camminer

Das kann nur eine Phantasie des Hellwig sei; wie sollte ich dazu kommen, das zu sagen?

Kommissar

Sie sollen da noch mehr gesagt haben, auch, dass das Blut so teuer ist.

Camminer

Ich kann mich auf solche Sachen nicht besinnen.

Kommissar

Ist es denkbar, dass Sie einen solchen Unsinn gesagt haben: In diesem Jahr ist das Blut so teuer, es kostet eine halbe Million?

Camminer

Nein, eigentlich nicht.

Kommissar

Camminer, Sie sind jüdischer Konfession; halten Sie es für denkbar, dass, wenn das gerade hier verbreitet ist, die Juden brauchen Blut zu irgend welchem Zweck, dass Sie hierüber Scherze machen?

Camminer

Das wäre gerade nicht schön, aber es könnte vorkommen, dass jemand sich nichts dabei denkt.

Kommissar

Meine Frage ging dahin, ob Sie es für denkbar halten, dass Sie als jüdischer Mann einen derartigen Witz machen, wenn die Gemüter erregt sind, und zu einem Bauersmann sagen: Dieses Jahr ist das Blut so teuer?

Camminer

Es kann möglich sein, dass ich einen solchen Witz eventuell machen würde, wenn es nach dem Morde gewesen wäre.

Kommissar

Das war es mit der Ruhe in Konitz. So weit ist es also gekommen in unserem kleinen, beschaulichen westpreußischen Städtchen. Angefangen hat es mit ein paar Halbstarken aus der Berufsschule, die sich einen Spaß daraus gemacht haben, erst den Levys, dann den Meyers, dann den Israelskis, den Sonnenbergs und dann auch den Wolfs kleine Steinchen an die Scheiben zu werfen. Manchmal rüttelten sie auch schreiend an den Türgriffen oder beschmierten die jüdischen Häuser mit Schweineblut. Die Dienstmädchen wurden blitzschnell in die düsteren Hauseingänge gezogen, wo man ihnen die neuesten Verdächtigungen in die kalten, rosa Ohren flüsterte. Und plötzlich standen erst hundert Leute auf dem Marktplatz, und dann tausend, und dann sind auch noch die Leute aus den Nachbargemeinden gekommen, aus Tuchel, aus Stanitz, aus Gottweißwo. Die Juden haben sich nicht mehr aus den Häusern getraut, die christlichen Frauen auch nicht mehr, und die Kinder hat man eingesperrt. Die Synagoge wurde verwüstet und außerdem zweimal gründlichst durchsucht, man hat sogar die Holzdecke abmontiert.

(zögert)

Levy, sind Sie das, Moritz mit dem Pincenez, was gibt es?

Moritz Lewy

Ich frage jeden fühlenden Juden, dem noch ein Funke unseres Väterglaubens in der Seele glüht, ob er nicht mit mir diese Synagogendurchsuchung als Gotteslästerung empfand? Unsere Religion ist doch vom Staat anerkannt und trotzdem klopfen sie unsere Synagoge nach den Spuren eines religiösen Mordes ab. Denn unsere Heiligtümer kann man straflos schmähen, jeder Lump und jeder Zuchthäusler darf uns Mörder nennen. Das Judentum ist vogelfrei!

Chor Der Dienstmädchen

Das Judentum sitzt auf der Anklagebank. Zurecht!

Kommissar

Die Zeitungen hetzten. Und schließlich wurden sogar die staatlichen Organe angegriffen, der Bürgermeister beleidigt, die Polizei verhöhnt. Die Landbevölkerung war von Aufrührern durchsetzt! Der Kaiser hat sogar das Militär gerufen. Militär in Konitz! Alle Zeitungen haben darüber berichtet. Die Konitzer Behörden waren überfordert.

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von Suffrin Dana [autor]

Dana von Suffrin – ur. 1985; studiowała w Monachium, Neapolu i Jerozolimie. Obroniła pracę doktorską o roli nauki i ideologii we wczesnym syjonizmie. Za „Otto”, swój powieściowy debiut, została wyróżniona nagrodami: za najlepszy debiut 2019 roku – nagrodą Klausa Michaela Kühnego oraz Buddenbrookhaus – jak również nagrodami Ernsta Hoferichtera oraz Friedrich Hölderlina dla obiecujących twórców w 2020.