Ein Vierteljahrhundert ist es nun her, dass der Eiserne Vorrang gefallen ist und die Europäer sich auf den Weg gemacht haben, zu erkunden, wer sie sind jenseits und diesseits der Barrieren des Kalten Krieges. Geschichte ereignet sich nicht im luftleeren Raum, sondern hat einen Ort. Europa war 1989 die Bühne all jener „historischen Augenblicke“, in denen das 20. Jahrhundert zu Ende gegangen ist, und der Schauplatz, auf dem die Akteure des neuen Europa ihren Auftritt hatten. Geschichtsschreibung trägt dieser Einheit von Ort, Zeit und Handlung Rechnung. Ortsbeschreibungen sind auch Zeitdiagnosen. Die Europäer, die solange voneinander getrennt waren, machten sich endlich vertraut mit dem Schauplatz ihrer Geschichte und mit dem Gelände, auf dem sie fortan miteinander auskommen müssen. Europa wurde neu erkundet und neu vermessen. Die Städte spielten darin eine besondere Rolle, denn dort hatte sich jene kritische Masse akkumuliert, die Umwälzung in Europa ausgelöst und getragen hat. Ihre Plätze und Straßen wurden zum öffentlichen Raum, in dem sich das grosse unbekannte Wesen - der Citoyen - zurückgemeldet hat. Im Verkehr und Austausch auf den metropolitanen Korridoren entfaltete sich das Kraftfeld des neuen Europa, bildeten sich neue Achsen. Was Europa ist, ist es wesentlich durch seine Landschaften und Städte. In Ihnen kristallisierten sich seine Geschichte, seine Kultur, seine Vitalität – auch seine Kastastrophen. An ihnen läßt sich am besten ablesen, was mit Europa geschehen ist und wie es heute um Europa steht. Es gibt kaum etwas Aufregenderes als den Text der Städte zu dechiffrieren. So viel Schichten überlagern sich dort, so viele Idiome und Stile sind hier ineinander verwoben, so viele Perspektiven stehen hier miteinander in Konkurrenz, so viele unterschiedliche Lesarten sind möglich. Vor allem aber: an diesem Text der Städte wird weitergeschrieben.
Zu dem neuen Bild, das die Europäer sich von Europa nach 1989 gemacht haben, gehörte auch eine neue Geographie der Kunst, eine neue Geographie der Kultur. Auf den Karten des Kalten Krieges war kein Platz für die alten Zentren Europas.
Mitteleuropa gab es im polaren, dichotomen Europa nicht mehr. Europa und seine Landschaften sind ein grosses Geschichtsbuch, in dem man lesen kann, und in dem Zusammenhänge sichtbar werden, die lange ignoriert worden sind. Für die älteren Geschichten scheint das klar: es gibt das Europa der Romanik und der Gotik, das Europa der Renaissance und des Barock, des Rokoko und des Klassizismus. Die Wirren des 20. Jahrhunderts haben den Blick auf diese Zusammenhänge lange Zeit getrübt. Aber es gibt sie: es gibt das Europa des Aufbruchs in den Jugendstil und in die Bauhaus-Moderne, es gibt das Europa des monumentalen Stils der autoritären Diktatoren und der von Krieg und Völkermord verwüsteten Städte, es gibt eine Nachkriegsmoderne, die am schwierigsten zu erkennen ist, weil sie uns noch allzu nahe ist. Eine Neuvermessung Europas, das aus dem Schatten und den Befangenheiten des Kalten Krieges herausgetreten war, begann seine Einheit und Widersprüchlichkeit neu zu entdecken und zu definieren.
Es gibt so viele europäische Stadtschicksale wie es Städte gibt. Sie auf einen einfachen Nenner zu bringen ist nicht möglich, aber wir können exemplarische Sondierungen und Grabungen veranstalten.
Königsberg steht für den doppelten Untergang einer grossen deutschen Stadt, das Scheitern des Bürgertums, die physische Zerstörung, doppelte Flucht und doppelte Vertreibung – erst 1933, dann 1945 -, und es ist wohl kein Zufall, dass das Denken der in dieser Stadt aufgewachsenen Hannah Arendt einen Leben lang um die Erfahrung der Apatriden - Heimatverlust, Flucht, Displacement - gekreist ist. Czernowitz steht für die glückliche Seite der zivilisatorischen Mission des Hauses Habsburg in Ostmitteleuropa, obwohl dort ein Karl Emil Franzos „Halbasien“ lokalisiert hat. Eine kosmopolitische Bibliopole von faszinierender Strahlkraft, einzigartiger Ort der von Juden hervorgebrachten deutschsprachigen Literatur, dann zerstört von deutschen Sonder- und Einsatzkommandos und ihren rumänischen Helfern, und am Ende an die Peripherie des Sowjetimperiums verbannt und provinzialisiert. Für einen kurzen Augenblick konnte Witebsk, eine Stadt im weissrussischen Teil des ehemaligen des jüdischen Ansiedlungsrajons, zu einem einzigartigen Laboratorium der Moderne werden, mit einer beispiellosen Konzentration von Begabungen, wenn man nur an das Werk von Chagall, Bachtin, Malewitsch denkt. Brünn, lange Zeit im Schatten von Wien und Prag liegend, steht für die glückliche Seite des aus dem Ende der Imperien hervorgegangenen neuen Mitteleuropa, ausgedrückt in der Stabilität und im Wohlstand der Republik T.G.Masaryks und in den atemberaubenden Werken der Brünner Architektenschule der 20er und 30er Jahre. Brünn steht für einen Aufbruch, der gewaltsam von aussen zerstört wurde. Babyn Jar ist der Name der Schlucht in Kiew, der den meisten Deutschen, aber auch den Europäern bis vor kurzem nur wenig geläufig war: der Ort der Vernichtung des Kiewer Judentums, des „Holocaust mit Kugeln“ in den ersten Monaten des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion.
Die in diesem Band versammelten Städtebilder sind in einem Zeitraum der letzten 30 Jahre entstanden, der letzte Beitrag zu Lemberg stammt aus dem Jahre 2015, ein Jahr nach dem Maidan und der russischen militärischen Aggression gegen die Ukraine. Lwiw/Lwów/Lemberg, die polnisch-jüdisch-ukrainisch-habsburgische Stadt, für Jahrzehnte im Schatten des Eisernen Vorhanges unsichtbar geworden, war wieder in den Horizont der europäischen Wahrnehmung zurückgekehrt.
Die Personen in den folgenden Skizzen haben kaum etwas miteinander gemein ausser ihrer Zeitgenossenschaft im Europa des 20. Jahrhunderts, in einer Sequenz von Kriegen, Revolution, Bürgerkriegen, Vertreibung und Exil. Ihre Biographien repräsentieren ganz verschiedene Herkünfte, unterschiedliche Lebensverläufe, Charaktere und Temperamente. Sie waren auf ganz verschiedene Weise an den geschichtlichen Bewegungen ihrer Zeit interessiert, engagiert oder in sie verstrickt. Die einen mehr aktiv handelnd, die anderen mehr passiv betroffen, wieder andere beides in einem. Biographien handeln nicht nur von der Linie in der Zeit - vom Geburts- zum Todesjahr -, sondern auch von den Bewegungen im Raum, also den Lebensstationen. Die Biographie durchmisst das Milieu der Herkunft, frühe Jahre und Schule, die Freundschaftskreise der Jugend, die entscheidenden Stationen der Ausbildung und des beruflichen Werdegangs, Stationen persönlichen Glücks und erfahrenen Leids. Lebensabschnitte können von weiten Strecken der Alltagsroutine bestimmt sein, aber auch von Brüchen, Krisen, Abstürzen. Besonders aufschlussreich erscheinen uns Biographien, wenn in ihnen individuelles Schicksal und „große Geschichte“ zusammenfallen.
Nimmt man die Lebenslinien so verschiedener Gestalten im Europa des 20. Jahrhunderts zusammen, die hier porträtiert sind, entsteht eine Vorstellung, wie weit Europa über die nationalen Grenzen und provinzielle Beschränktheit schon einmal hinausgelangt war, und wie tief der Abgrund war, in den das Europa zwischen Kriegen gestürzt war.
Sergej Djagilew repräsentiert die russische Kultur im Zenit ihrer Strahlkraft, als sie gleichsam den Ton angab. Georg Lukacs Lebensweg erstreckt sich vom behüteten Milieu des Budapester Spätbürgers, über die intellektuellen und ästhetischen Suchbewegungen eines Marxisten, der in den Verhören des NKWD in der Lubjanka landet, bis zur ungarischen Revolution des Jahres 1956 und der Kontaktaufnahme mit der Neuen Linken im Europa der 1960er Jahre – Lukacs war eine der ganz wenigen intellektuellen Gestalten, die auch über den Eisernen Vorhang hinweg ihre Wirkung entfalten konnten. Auch Harry Graf Kessler, der „rote Baron“, steht für die Schicksale der bürgerlichen Welt in Zeiten des Abstiegs, der Krise und des Absturzes Deutschlands - ein Europäer par excellence, 1933 vertrieben aus der Heimat und gestorben im französischen Exil.
Diese Sondierungen und Grabungen sind nicht unternommen worden, um Lehren für die heutige Zeit zu ziehen; denn es gilt immer noch, was Hegel dazu zu gesagt hat: „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wäre, gehandelt haben. Jede Zeit hat so eigentümliche Umstände, ist ein so individueller Zustand, dass in ihm aus ihm selbst entschieden werden muss und allein entschieden werden kann. Im Gedränge der Weltbegebenheiten hilft nicht ein allgemeiner Grundsatz, nicht das Erinnern an ähnliche Verhältnisse, denn so etwas wie eine fahle Erinnerung hat keine Kraft gegen die Lebendigkeit und Freiheit der Gegenwart“ (G.W.F.Hegel, Werke 12, Vorlesungen über di Philosophie der Geschichte, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, S.17). Wohl aber führt sie uns eine Geschichte vor Augen, in der alles offen und unsicher war. Und das gilt wohl auch für uns, die wir das 20. Jahrhundert hinter uns gelassen und in eine gänzlich neue Zeit eingetreten sind, von der noch nicht klar ist, ob sie das 2jahrhundert der Extreme“ hinter sich gelassen hat.
Man kann aus dem Schicksal von Städten und aus individuellen Lebenslinien etwas von der Fragilität, Gefährdetheit und Verwundbarkeit Europas erfahren, vom Mut und der Kraft der zivilen Gesellschaft, aber auch von deren Ohnmacht. Bei diesen Sondierungen und Grabungen schält sich aus dem Gewirr dieser Lebenslinien eine Topographie heraus, die wir Nachgeborenen nur noch vom Hörensagen kennen: die Schlachtfelder des Krieges, die Kampfzonen des europäischen Bürgerkriegs, die Frontverläufe der Auseinandersetzungen zwischen den großen ideologischen Lagern. Alles Leben spielt sich in diesem heillosen Gewirr von Krieg, Revolution, Bürgerkrieg und bewaffnetem Frieden ab, der in vielem nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln war. Als Nachgeborene können wir uns nur Zutritt zu diesem Erfahrungsraum verschaffen, wenn wir den Toten, die nicht mehr sprechen können, unsere Stimme leihen. Der Idealfall in diesem Zwiegespräch zwischen den Generationen wäre ein Gespräch von gleich zu gleich, unter Ebenbürtigen, die sich respektieren, in Demut und ohne Belehrung und ohne die Besserwisserei der Spätgeborenen.
Ich hoffe sehr, dass sich die hier versuchte Archäologie, etwas vom genius loci, vom Geist Europas und seiner Städte freizulegen, auch für den polnischen Leser von Interesse ist. Dass Piotr Kloczowskii diesen Band zusammengestellt und herausgebracht hat, dafür bin ich ihm von ganzem Herzen dankbar.
Karl Schlögel, Berlin im August 2017
Die Redaktion von RADAR dankt dem Autor, als auch Piotr Kłoczowski - Herausgeber der Mnemosyne-Bibliothek und dem Verlag Słowo/obraz terytoria für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck des Textes.