WYDAWCA: STOWARZYSZENIE WILLA DECJUSZA & INSTYTUT KULTURY WILLA DECJUSZA
AAA
PL DE UA
Auf den Hund

1 Metamorphosen

                                                                                         In establishing contact with strange
                                                                                         people, Charley is my ambassador.
                                                                                                                            John Steinbeck

 

1962 jagt 007 Dr. No, Sean Connery übersteht glücklich ein Abenteuer nach dem anderen, 1962 stationiert die Sowjetunion Nuklearraketen auf Kuba, und alles, was danach kommt, hätte es beinahe nicht gegeben, Ende 1962 beginnt in Europa ein sogenannter Jahrhundertwinter, der den Bodensee zum letzten Mal bis heute wird zufrieren lassen, 1962 erhält John Steinbeck den Literaturnobelpreis, einige Wochen davor, im Sommer, veröffentlicht er seinen aus mehr oder weniger kurzen Episoden bestehenden Reisebericht Travels with Charley, nur wenig später, am 25. September, fertigt mein Vater, von Beruf Statiker, Zeichnungen unseres zukünftigen Hauses an, des Hauses, in dem er sein restliches Leben unglücklich verbringen und auf jämmerliche Weise sterben sollte, des Hauses, in dem ich geboren wurde und in dem ich nach wie vor lebe. Auf der Zeichnung mit der Nordansicht sind ein Pfeife rauchender Mann, ein Mädchen mit abstehenden Zöpfen und ein aufmerksam dreinblickender Hund zu sehen, wie Zeichnungen mit anderen Hausansichten hängt diese nach wie vor im Wohnzimmer, und ich, der ich sie immer wieder betrachte, habe es mir zur Gewohnheit gemacht, in meinem Vater fälschlicherweise denjenigen zu sehen, der dem Hund den Namen Charley gegeben hat, allerdings ohne e, um einen Unterschied zu markieren. Ich stelle mir vor, wie der Mann auf der Zeichnung sich in meinen Vater verwandelt und der Hund in einen Pudel, dessen Fell, wenn man lange genug hinschaut, blau zu schimmern beginnt, ich stelle mir vor, wie die beiden das Mädchen und das Haus zurücklassen und losziehen, hinaus aus der Zeichnung, wie sie über den zugefrorenen Bodensee gleiten, und ich stelle mir vor, dass es alles, was danach kommt, nie gegeben hätte, nur den einen Charly und meinen Vater, mit jedem Schritt und jedem überstandenen Abenteuer der beiden werden ihre Tage bunter und lichter, und wenn sie durch unbekannte Straßen gehen, ist mir, als würden sich an den Häusern ringsum Blumenfenster öffnen, dahinter werden Menschen sichtbar, die zunächst den blau schimmernden Hund sehen und danach meinen Vater willkommen heißen.


2 Lehrmeister
 

                                                  Vielleicht hilft es, sie zu betrachten. Sie als das Zentrum
                                                  der Erklärungen anzusehen, die nicht kommen.
                                                                                                                             Ilse Aichinger

 

Der braune Sessel im Wohnzimmer weist zahlreiche Flecken auf. Sie sehen aus, als hätte jemand heiße Milch verschüttet. Ein unachtsames Kind hätte für die Flecken verantwortlich sein können oder ein ungebetener Gast. Ich aber weiß, sie stammen von den drei Charlys, die, einer nach dem anderen, den Sessel für sich reklamierten. Den ersten versuchte ich anfangs davon abzuhalten, sich darauf breit zu machen, aber mein Vater meinte, ich solle dem Hund seinen Willen lassen, bei den anderen beiden ließ ich es von vornherein geschehen. Die Flecken kamen einer nach dem anderen in die Welt, die ersten unmerklich, so dass eine ganze Zeit verging, bis sie mir zu denken gaben, vielleicht erst beim zweiten Hund. Die ersten beiden saßen hoch aufgerichtet im Sessel, mit unruhigen Augen, die die Fliegen verfolgten, und jedes Geschehen draußen, vor dem Fenster, die nahe am Boden schleichenden Wolken und die im Wind sich neigenden Apfelbäume, sie entzifferten geduldig den Abend und die schwache Rauchfahne eines Nachbarhauses. Der dritte lag, bereits in jungen Jahren, trotz seiner Größe zusammengerollt im Sessel, manchmal seufzte er leise, es klang nicht besorgt, als würde er im Himmel spazieren gehen, jedenfalls weit weg von allem hier unten. Nie habe ich herausfinden können, wie sie die Flecken zustande brachten, obwohl ich sie genau beobachtete, wenn sie das Wohnzimmer betraten und, die ersten beiden mit schnellen Sprüngen, der dritte bedächtig, auf dem Sessel Platz nahmen. Dass ich mir über die Flecken Gedanken mache, auch nachdem die drei Hunde gestorben sind, beunruhigt mich nicht mehr, und ich habe davon Abstand genommen, den Sessel professionell reinigen zu lassen oder ihn gleich ganz zu entsorgen. Immer öfter kommen Tage, an denen helfen mir die Flecken. Ich kann sie bereits sehen, wenn es dämmert. Und dann, in nicht allzu ferner Zukunft, werden sie meine Lehrmeister sein.


3 Loyalität

                                                                 Jetzt also nun, als er merkte, dass Odysseus
                                                                 in der Nähe war, wedelte er zwar noch mit dem
                                                                 Schwanz und legte beide Ohren an, doch seinem
                                                                 Herrn nahe kommen konnte er nicht mehr.
                                                                                                                                           Homer

Ich habe einen Hund, also bin ich. Das denke ich oft. An manchen Tagen sogar: Ich bin nur, weil ich einen Hund habe. Allerdings habe ich keinen Hund mehr, alle drei sind tot. Der blaue Pudel starb auf dem Operationstisch, während der Arzt ein Krebsgeschwür an seinem After entfernen wollte. Wir hätten ihn mitnehmen können. Stattdessen aber entschieden mein Vater und ich, dass er direkt in der Tierklinik entsorgt wurde. Der zweite, ein ausgesprochen heller sibirischer Schäferhund, lag eines Morgens tot auf den weißen Kacheln im Badezimmer, sein Kopf ruhte auf einer Pfote, auf den ersten Blick wirkte es, als schliefe er. Wir vergruben ihn verbotenerweise auf unserer Wiese unter einem Baum. Der dritte wurde direkt auf dem Rücksitz meines Autos eingeschläfert. Der Tierarzt war wütend auf mich, weil er den schwerkranken Hund in den Wochen davor schon mehrfach aus dem Leben befördern wollte, ich aber meine Zustimmung verweigerte. An dem Tag, an dem ich mich für eine Trennung in der Lage hielt, war der Arzt, der mich der Tierquälerei bezichtigte, weder bereit, zu mir nach Hause zu kommen, noch hielt er es für angebracht, den dritten Charly in seiner Praxis einzuschläfern. Der Arzt kam mit aufgezogener Spritze ans Auto, setzte sich neben den Hund und stieß ihm routiniert die Spritze ins Fell. Dieser öffnete noch einmal einen Spalt breit seine Augen, dann war es vorbei. Ich ließ die Überreste verbrennen, die Urne, eine schlichte aus Holz, steht auf dem Wohnzimmertisch, daneben, an der Wand, hängen Fotos sämtlicher Charlys. Zu meinen Gewohnheiten zählt, früh morgens vor der Urne zu sitzen, auf die Fotos zu schauen und mit dem tröstlichen Gedanken in den Tag zu gehen, dass alle drei, wäre ich auch zwanzig Jahre lange in der Fremde und käme als ein anderer zurück, die Ohren angelegt und als Einzige mich wiedererkannt hätten als der, der ich bin.


4 Fernpunkt
 

                                                                                    Daß er nicht müde wurde, den
                                                                                    Tieren das Vergessene abzulauschen.
                                                                                                                        Walter Benjamin 

Mein Vater war schon immer ein stiller Mensch gewesen, den Hunden auf seine eigene Weise zugetan, auch dem dritten, mit dem er allerdings nur noch wenig Zeit verbringen konnte. Wie der helle Charly starb er im Badezimmer, vielleicht war er auf der Toilette gewesen und wollte sich die Hände waschen, beim Sturz musste er sich den Kopf am Waschbecken aufgeschlagen haben, jedenfalls hatte er dort eine Wunde, die ich auswusch, als ich ihn am anderen Morgen fand, halb auf dem Rücken liegend, halb auf der Seite, mit eigentümlich ineinander verschränkten Beinen, der damals noch nicht ausgewachsene dritte Hund schlief neben ihm. Mit Mühe zog ich ihn hinüber ins Schlafzimmer und auf sein Bett. Dort wartete ich, neben ihm sitzend, auf den Arzt. Zu den täglichen Routinen meines Vaters hatte gehört, bei jedem Wetter morgens und abends mit den ersten beiden Charlys lange Spaziergänge zu unternehmen. Nie nahm er eine Leine oder ein Halsband mit. Wenn ich ihn manchmal fragte, wo er gewesen sei, antwortete er: am See oder im Wald, genauere Auskunft erhielt ich nie. Ansonsten kümmerte er sich nicht um die Hunde, nicht einmal abtrocknen wollte er sie, wenn sie nass und verdreckt waren, und ich sie, in Sorge darüber, wo sie abgeblieben waren, an der Haustür erwartete. Für gewöhnlich kehrten sie kurz nacheinander zurück, selten einmal der eine oder der andere einige Zeit später. Ich wünschte, ich hätte ihn ab und zu begleitet, mich über seinen Wunsch, diese Zeit für sich haben zu wollen, hinweggesetzt, denn dann würde ich heute vielleicht den Grund kennen, weshalb die Tiere und er Tag für Tag am See oder im Wald waren. Vielleicht vermochte er es, ihnen zuzuhören, etwas über sie in Erfahrung zu bringen, das nun, mit seinem Tod, verloren ging, vielleicht sind sie aber auch nur, jeder für sich und jeder in seiner Welt, nebeneinander hergegangen, auf parallelen Wegen, die sich wenn, dann allenfalls im Unendlichen schneiden.


5 Stock werden
 

                                                                                                      Der Hund breitete sich aus.
                                                                                                                  Marion Poschmann

Obwohl seine Augen fast geschlossen sind, kommt es mir vor, als habe er seine Umgebung fest, aber teilnahmslos im Blick. Mag eine Wolke vorbeiziehen oder ein Sperling, die Begebenheiten der Welt scheinen ihm falsche oder zumindest irreführende zu sein, und so bevorzugte er es bereits in jungen Jahren, ihnen in sich zusammengerollt zu begegnen. Der dritte Charly ist eine kohlrabenschwarze Promenadenmischung, und er unterscheidet sich von den vorherigen nicht nur durch die Farbe seines Fells, sondern auch durch etwas, was ich anfangs für geringe Lebenskraft hielt. Aber ich täuschte mich. Er erwartet nichts, auch nicht das nächste Fressen. Klingelt es, hebt er nicht einmal den Kopf. Meine zeitweisen Bemühungen, ihn zu necken, ihn durch Piesacken zum Knurren und Bellen zu bringen, bleiben erfolglos. Trotzdem ist er mir, seit dem Tod meines Vaters, auf eine unbeirrbare Weise zugetan. Ich merke es nicht daran, dass er mit dem Schwanz wedelt, wenn ich von der Arbeit nach Hause zurückkehre, aber jedes Mal, wenn ich die Eingangstüre öffne, liegt er dahinter. Sofern möglich, bleibt er in meiner Nähe. Er folgt mir nach draußen, geht still und ohne müde zu werden neben mir her. Wenn ich am See einen Stock weit hinaus ins Wasser werfe, schwimmt er nicht wie die beiden zuvor schnurstracks hinterher, sondern wendet sich mal hierhin, mal dorthin, oft ausgesprochen langsam, als gehe es ihm gar nicht darum, den Stock zu finden. Doch nie kehrt er unverrichteter Dinge zurück, während der Blaue und der Helle gelegentlich erfolglos weit draußen umherirrten. Mit ihm bin ich oft am See, mehr als mit den früheren Charlys, eigentlich täglich. Inzwischen träume ich auch mehr oder weniger regelmäßig davon, dass ich der Stock bin, der in seinem Maul landet. Ich werde weit hinausgeworfen, der dritte Charly folgt mir scheinbar planlos und findet mich doch immer, zurück am Ufer werde ich zernagt und löse mich in seinem Inneren auf. Keineswegs wache ich nach solchen Träumen schweißgebadet auf. Im Gegenteil, ich bin zufrieden, und wenn ich mich versichert habe, dass der Hund zusammengerollt neben dem Bett liegt, denke ich, dass ich bestens aufgehoben bin.

Do góry
Drukuj
Mail

Hamann Christof [autor]

Christof Hamann | ur. w 1966 w Überlingen nad Jeziorem Bodeńskim; pisarz, profesor współczesnej literatury niemieckiej w Kolonii. Współredaktor magazynu literackiego „die horen”. W 2019 ukazał się tom „Christof Hamann: Gehen, Stolpern, Schreiben” pod redakcją Andreasa Erba, zawierający jego wykłady poetyckie, które wygłosił latem 2017 r. na Uniwersytecie Duisburg-Essen. W 2024 był współredaktorem podręcznika „Handbuch” „Literatur & Reise”. Jego prace literackie są publikowane przez Steidl Verlag.