WYDAWCA: STOWARZYSZENIE WILLA DECJUSZA & INSTYTUT KULTURY WILLA DECJUSZA
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Urlaub

1. Gulasch

Einen Tag bevor das Ehepaar Wantuch mit dem Auto in den Urlaub fuhr, gab es immer denselben Streit. Herr Wantuch wollte ein Gulasch zum Abendessen, Frau Wantuch aber bestand darauf, die Reste aus dem Kühlschrank aufzuessen. Immerhin habe man die Lebensmittel um teures Geld gekauft, und wenn man vom Urlaub zurückkäme, wären sie bereits verdorben. Ing. Wantuch aß schweigend Käse- und Wurstreste, hartes Gebäck und vertrocknetes Gemüse und ging zu Bett. Am nächsten Tag brach das Ehepaar Wantuch mit dem Auto in den Urlaub auf. Auf der Passstraße zum Grenzübergang blieb Ing. Wantuch beim ersten Aussichtspunkt stehen. Er blickte ins Tal und sagte, er hoffe, dass es vor der Grenze noch ein Gasthaus mit einem ordentlichen Gulasch gäbe. Frau Wantuch schwieg für den Rest des Tages.


2. Briefbeschwerer

Der Redakteur Wuchte vom Dingshofener Boten, zuständig für die Rubrik Katastrophen und Unglücke, produzierte an einem Tag im August keinen einzigen Satz. Ohne einen Artikel, ja, ohne die Idee zu einem Artikel, musste er an diesem Tag an der Redaktionssitzung für die Abendausgabe teilnehmen. Vom Chefredakteur Grammel gefragt, warum er keinen Artikel über einen Unfall geschrieben habe, antwortete Wuchte, dass es keine Unfälle gäbe, weil alle Menschen derzeit auf Urlaub wären. Chefredakteur Grammel stand von seinem Schreibtisch auf und begann zu brüllen. Er brüllte so laut, dass man die Fensterscheiben der Redaktion des Dingshofener Boten surren hören konnte. Wie es denn möglich sei, dass er an diesem Morgen im Stau gestanden sei, wenn alle Menschen auf Urlaub wären, brüllte Wuchte. Wie es denn möglich sei, dass er an diesem Tag beim Einkaufen keine Bananen mehr bekommen habe, wenn alle auf Urlaub wären. Für wen man denn hier in der Redaktion eine Zeitung mache, wenn alle Menschen auf Urlaub wären. Woher denn der schreckliche Lärm komme, der ihn den ganzen Tag umgebe, wenn alle Menschen auf Urlaub wären. Wie man ihm denn erklären könne, warum er bereits halb wahnsinnig sei vom lauten Krächzen, vom ständigen, nervösen Hüsteln, vom Lärmen, Nesteln, Klappern und Knarzen, vom Krachen der Böller, vom unentwegten Geflöte von Mozartmusik, die beständig aus den Radios dröhne, vom Schaben der Messer auf den Tellern in der Pizzeria, das so durchdringend sei, dass er glaube, die Essenden wollten nicht ihre Pizza oder ihr Fleisch, sondern den Teller darunter zerschneiden. Wo denn ein derartiges Pfeifen, Dröhnen, Scheppern, Rattern, Piepsen, Knallen, Schießen und Schlagen und Wetzen, sogar ein unentwegtes Poltern herkomme, wenn alle Menschen – wie der Redakteur Wuchte behaupte – auf Urlaub wären. Er verbitte sich solche Ausreden. Im Übrigen wisse er aus sicherer Quelle, so der Chefredakteur Grammel, dass es auch auf Urlauben zu den bemerkenswertesten Unfällen und Katastrophen käme, ja, dass gerade Urlauber auf spektakulärste Weise verunglückten, verunfallten oder verschwänden, dass er von Hotels gehört habe, aus denen Menschen, wenn sie sie einmal beträten hätten, völlig verändert wieder herauskämen. Der Chefredakteur Grammel schlug mit der Faust auf den Tisch und hätte dabei fast einen Briefbeschwerer getroffen, der noch niemals einen einzigen Brief beschwert hatte.


3. Schief

Seit der Starkstromelektriker Ziniel mit seiner Frau Urlaub im Hotel Föhrenhof gemacht hat, hat sich sein Wesen völlig verändert. Da das Ehepaar Ziniel Vollpension gebucht hatte, saßen sie dreimal am Tag am selben Tisch im Speisesaal des Föhrenhofs und hatten links und rechts von sich dieselben Nachbarn, die ebenfalls Vollpension gebucht hatten. Am Tisch links von ihnen saß die Familie Findeis – ein Ehepaar mit zwei Kindern. Herr Findeis, der nach drei Bandscheibenvorfällen an ständigen Rückenschmerzen litt, nahm seither beim Gehen eine seltsame Haltung des Oberkörpers ein, bei der die linke Schulter stark hochgezogen und seine Oberarme weit vom Körper gestreckt waren. Seit dem zweiten Urlaubstag nahm der Starkstromelektriker Ziniel ebenfalls diese Haltung ein; zuerst nur, wenn er durch den Speisesaal ging, später auch am Badestrand, auf dem Zimmer und bei Besichtigungen und Ausflügen. Bald übernahm Ziniel von seinem rechten Sitznachbarn ein ständiges, nervöses Hüsteln. Von Frau Seifried, die die Gäste des Föhrenhofs bei Besichtigungen und Ausflügen als Reiseleiterin begleitete, übernahm er die Angewohnheit, jeden Satz mit »Gelt?« zu beenden. Nach einer Woche berührte Ziniel hunderte Male am Tag mit dem Knöchel des linken Zeigefingers seine Nase, wie es der Rezeptionist des Hotel Föhrenhof immer wieder tat, um seine Brille hochzuschieben. Der Starkstromelektriker Ziniel trug allerdings gar keine Brille. Wie Herr Wantuch von Zimmer 11 redete Ziniel plötzlich von nichts anderem als von der Relativitätstheorie. Wie das Zimmermädchen öffnete er auf dem Korridor in seinem Stockwerk bei jedem Vorbeigehen das Fenster zum Lüften und er versuchte den ungarischen Akzent des Fleischermeisters Halász von Zimmer 14 zu imitieren. Manche behaupten, dass die Frau des Starkstromelektrikers Ziniel eines Morgens schreiend aus dem Hotelzimmer lief und erklärte, ein fremder Mann habe sich neben ihr in das Queen-Size-Bed ihres Zimmers gelegt. Andere schildern den wahrscheinlicheren Ausgang des Urlaubs: Frau Ziniel soll bei der Abfahrt vom Föhrenhof, bevor das Ehepaar ins Auto stieg, zu ihrem Mann gesagt haben: »Ist dir schon aufgefallen, dass du, seit wir hier im Urlaub sind, schief gehst?«


4. Erwärmen

Der Fleischermeister Halász ist Ungar. Er ist im Jahr 1956 aus Ungarn geflohen und hierhergekommen. Seine Kunden haben daran keinen Zweifel. Nur der Fleischmeister Halász bezweifelt, dass das die Wahrheit ist. Wenn es wirklich wahr ist, dass er aus Ungarn kommt, denkt der Fleischermeister Halász, während er für eine Kundin das Beuschel in kleine Stücke hackt, dann hat er, der Fleischermeister Halász, die dortige Sprache bereits verlernt, die hiesige Sprache aber noch nicht erlernt. Wenn er wirklich Ungar ist, wie alle sagen, und wovon auch seine Frau überzeugt ist, denkt der Fleischermeister Halász, während er das gehackte Beuschel, das seine Stammkundin nicht für sich, also nicht für den menschlichen Verzehr, sondern als Futter für ihre Katze Minka kauft, in einen Zeitungspapierbogen, den er aus der Fleischhauerinnungszeitung Lukullus gerissen hat, einwickelt und dabei darauf achtet, dass kein Fleischstück durch einen seiner achteinhalb Finger rutscht oder eher durch einen seiner anderthalb abwesenden Finger rutscht – wenn er also wirklich Ungar ist, dann müsste er auch Ungarisch sprechen. Der Fleischermeister Halász versucht also beim Sprechen einen Hiesigen zu imitieren, der versucht, ungarischen Akzent zu imitieren, und sagt zu seiner Kundin: »Das Fleisch vor dem Füttern kurz erwärmen.« Er spricht das Wort ERWÄRMEN dabei so aus, als schreibe man es mit drei Umlaut-Ä und betont es auf der ersten Silbe. Die Kundin verlässt die Fleischerei und der Fleischermeister Halász wischt seine Hände mit dem großen Geschirrtuch ab. Den letzten Finger, den er sich abgehackt hat, besser gesagt ein Glied des linken Mittelfingers, hat seine Frau, eine tiefgläubige Katholikin, in einer Streichholzschachtel aufbewahrt, die auf dem Regal im Wohnzimmer neben der Flasche mit dem Lourdes-Wasser liegt und so platziert ist, dass das Fingerglied in Richtung Lourdes zeigt. Frau Halász stammt aus Kroatien und im Gegenteil zu ihrem Mann, denkt der Fleischmeister Halász, hat sie ihre Muttersprache nicht verlernt. VERLERNEN, sagt der Fleischmeister Halász laut vor sich hin und verssucht dabei wie ein Hiesiger zu klingen, der versucht, ungarischen Akzent zu imitieren. VERLERNEN sagt er ein zweites Mal und ist froh, dass ihn niemand hören kann.


5. Stau

»Wären wir über die Bundesstraße gefahren und nicht über die Autobahn, dann stünden wir jetzt nicht im Stau«, sagte Frau Wantuch. Es war nicht das erste Mal, dass sie diesen Satz sagte — und auch nicht das letzte Mal. Wie die anderen Lenker stieg Herr Wantuch immer wieder aus und ging ein Stück auf der Autobahn, um nachzusehen, ob der Stau sich aufzulösen begann und um mit anderen Fahrern zu sprechen. Frau Wantuch hörte mit, als ihr Mann jemandem etwas über die Relativitätstheorie erzählte. Herr Wantuch stieg wieder ein. Er erklärte seiner Frau, dass gemäß Relativitätstheorie die Zeit langsamer vergehe, je größer die Geschwindigkeit sei, mit der man sich im Raum bewege. Im Stau also, wo man sich gar nicht oder nur sehr langsam bewege, müsse demnach die Zeit schneller vergehen. Frau Wantuch nahm einen Fächer aus ihrer Handtasche und versuchte, ihr Gesicht zu kühlen. »Und ich soll dann zu Hause noch Gulasch machen, damit es nicht wieder Brote mit Aufstrich gibt«, sagte sie. »Wären wir nur über die Bundesstraße gefahren! Und fang’ jetzt nicht wieder an mit deiner Relativitätstheorie!«


6. Das Nichts

In Dingshofen fiel am 3. Juli keine einzige Person von einer Leiter. Am selben Tag touchierte weder in Dingshofen noch in Dingshofen-Einöde ein Auto ein anderes Auto oder ein Garagentor, kein Kind berührte aus Neugier oder von anderen Kindern zu einer Mutprobe angestachelt den elektrischen Weidezaun des Bauern Tritremmel, kein Rasenmäher schnitt die Zehe eines barfuß Rasenmähenden ab, der Fleischermeister Halász traf mit seinem Hackebeil kein einziges Mal einen seiner achteinhalb Finger, kein Windstoß fegte eine Schindel von einem Dach, kein Topf mit Milch wurde auf einer Herdplatte vergessen und lief über, kein Regen überflutete einen Keller und kein Abfluss wurde verstopft, kein Blitz schlug ein, da es kein Gewitter gab, keine Kontaktlinse verschwand in einem Ausguss, kein Haustier musste gerettet werden, niemand starb, kein Mensch erkrankte, nichts wurde gestohlen, der Strom fiel kein einziges Mal aus, keine Wand wurde mit Graffiti beschmiert und der Autobus aus Bumshofen kam zwei Mal exakt zu der im Fahrplan angegebenen Zeit in Dingshofen-Bushaltestelle an, worauf der Busfahrer Rubendunst langsam ausstieg, drei Zigaretten hintereinander rauchte und es dabei nicht, wie von seinem Hausarzt befürchtet, zu einem weiteren Herzinfarkt kam. Der Redakteur Wuchte vom Dingshofener Boten, zuständig für die Rubrik Katastrophen und Unglücke, telefonierte mit der Gendarmerie, der freiwilligen Feuerwehr und allen umliegenden Krankenhäusern, um auf irgendetwas zu stoßen, vom dem er berichten könnte. Er führte Gespräche an Stammtischen und hielt Ausschau nach brennend weggeworfenen Zigaretten; doch er sah keine einzige, die irgendetwas hätte in Brand stecken können. Aber nicht nur in Dingshofen gab es nichts zu berichten. Auch aus Bumshofen, Gratz, Greinsberg, St. Georgen an der Gusen, Goldwörth und Grammastetten, Linz, Passau, München, Berlin, New York und Tokio wurde an diesem Tag kein einziges Unglück gemeldet. Wuchte wartete noch bis zehn Minuten vor Redaktionsschluss. Dann schrieb er in größter Eile einen Artikel mit dem Titel Ein ganz normaler Tag in Dingshofen und legte ihn dem Chefredakteur Grammel auf den Tisch. Grammel überflog den Artikel. Dann schob er das Blatt seufzend zur Seite und erinnerte den Redakteur Wuchte daran, dass es seine Aufgabe sei, fortlaufend den Tatbestand von Unfällen und Unglücken zu reproduzieren. Doch auch die Nacht verging ohne Einbrüche und Katastrophen. Und am darauffolgenden Tag ereignete sich wieder nichts. Der Redakteur Wuchte machte das Radio an, um die Frühnachrichten zu hören. Die Sprecherin sagte, man spiele nun, da es keine Schlagzeilen gäbe, anstatt der Schlagzeilen eine Fantasie von Mozart. Anstatt der Inlandsnachrichten spielte man ebenfalls Mozart. Man spielte auch statt der Auslandsnachrichten Mozart, statt der Wirtschaftsnachrichten Mozart, die Kulturberichterstattung wurde durch Mozart ersetzt und nachdem der Wetterbericht mit dem Satz endete, das Wetter werde morgen genau so sein wie heute, spielte man wieder ein paar Takte Mozart. Bis hierher sind die Geschehnisse allgemein bekannt. Es gibt aber verschiedene Berichte darüber, was danach passiert sein könnte. Manche wollen wissen, dass der Redakteur Wuchte den Kommandanten der Freiwilligen Feuerwehr Dingshofen empfohlen habe, einen Brand zu legen, denn – so erklärte er es dem Mann – die Feuerwehr laufe Gefahr, wenn sie nicht gebraucht werde, auch keine Förderungen der Gemeinde und des Landes mehr zu bekommen. Auf ähnliche Weise soll er einen Gendarmen zu einem Banküberfall angestiftet und den Arzt von Dingshofen eingeredet haben, er müsse seine Patienten mit verschiedenen Krankheiten infizieren. Andere behaupten, dass der Redakteur Wuchte beim Hören von zuviel Mozart irrsinnig geworden sei. In Bumshofen wieder erzählt man, dass der Redakteur Wuchte an diesem Tag mit zittriger Hand seinen letzten Artikel geschrieben, dem Chefredakteur Grammel auf den Schreibtisch gelegt haben und dann für immer verschwunden sein soll. Der Artikel soll die Überschrift Das Nichts getragen haben:

Das Nichts

Es kommt von Westen und hat bereits die Ostküste Amerikas erreicht, von wo es auf dem Weg zu den Azoren ist: das Nichts. Es kündigt sich durch äußerste Ereignislosigkeit an, die die Menschen zunächst euphorisch macht. Sie denken, dass das Ausbleiben schlechter Nachrichten etwas Positives wäre, freuen sich darüber und glauben, dass sie in besonders guten und sicheren Zeiten leben würden. Bald aber beginnt das Nichts zu nichten, Menschen und Tiere zu lähmen, sie unbeweglich zu machen, ihre Gehirntätigkeit einzuschränken und ihre Atmung zu verlangsamen. Gegen das Nichts kann man nur eines tun: nichts. Dadurch wird das Nichts nur noch größer und nichtiger. Schon in wenigen Tagen wird es sich unaufhaltsam über Frankreich, die britischen Inseln und Dingshofen, Dingshofen-Einöde und Dingshofen- Bushaltestelle geschoben haben. Seine ersten Anzeichen habe ich bereits von zwei Tagen bemerkt. Man hält mich aber für verrückt und schlägt meinen Warnungen in den Wind. Doch es gibt keinen Wind mehr. Es gibt nichts mehr. Und bald wird dieses Nichts unsere Atmung lähmen und unsere Muskulatur anhalten. Umsonst wird man sich dann nach Bränden und Überschwemmungen, nach Blut, Tod und Irrsinn sehnen, nach Kultur anstatt immer nur nach Mozart und Mozart und Mozart. Aber es wird nur mehr nichts geben. Und dieses Nichts wird am Ende unseren Herzschlag zum Stillstand bringen und uns töten.

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Wisser Daniel [autor]

ur. 1971; mieszka i pracuje jako pisarz w Wiedniu. Pisze powieści, opowiadania, słuchowiska radiowe i eseje. Otrzymał między innymi Austriacką Nagrodę Książkową za powieść „Królowa Gór” (2018, wyd. polskie 2023). Niedawno ukazała się jego najnowsza powieść „Smart City” (2025).